Mindest-Utopie, Leitstern und Leitbild

Heidelberg, 15.12.2021.

Utopie (ou topos) ist der Ort, den es (noch) nicht gibt und der einem (deswegen) zeigt, was und wie es sein soll. Der Nordstern (oder Leitstern) zeigt uns die Himmelsrichtung. Wo es lang geht, damit wir da ankommen, wo wir hinwollen. Das Leitbild verbindet beides: Es zeigt das (vielleicht unerreichbare) Ziel und gibt damit die Richtung vor. Wenn es mit Hilde Domin eine Mindest-Utopie gibt, macht es sicher auch Sinn, von einem Mindest-Leitbild zu sprechen. Das nimmt der Leitbildfindung eine mögliche Schwere und fokussiert gleichzeitig auf das Wesentliche.

 

Ein populäres Buch von Simon Sinek („Start with a Why“) beschreibt die Bedeutung der Bewusstmachung des Leitsterns als zentralen Bestandteil motivierender Führung. Im Deutschen heißt das Buch: „Frag immer erst warum“.

Unser zentrales Bildungsthema ist Kommunikation und wir habne gelernt, dass es oft demotivierend ist, anderen eine Warum-Frage zu stellen. Vor allem aus zwei Gründen:

  • Fragen, die mit „Warum“ beginnen, werden oft nicht als offene Frage gehört, sondern als Vorwurf verstanden. Damit laden sie zu einer Rechtfertigung bzw. zum Widerstand ein. Das ist das Gegenteil von motivierender Kommunikation.  
  • Fragen, die mit „Warum“ beginnen, können ad infinitum zu weiteren  Warum-Fragen führen, wie uns Vierjährige oft lehren. Sie sind in einem gewissen Sinne nicht zu Ende beantwortbar und damit nerven sie.

Bereits 1984 hat der Schweizer Psychiater Aron R. Bodenheimer das fragenkritische Buch geschrieben: „Warum? Von der Obszönität des Fragens“. Doch es kann etwas Anderes sein, sich selbst nach dem „warum“ zu fragen. Vielleicht wäre auch die bessere Frage „Wozu“; das englische Wort „why“ lässt es (zum Glück) zu.

 

Für Teams kann das bedeuten, sich Zeit zu nehmen und (wieder neu) über Sinn und Zweck der Organisation und dessen, was sie tun, nachzudenken. Sich zu fragen: leben und handeln wir nach einem (impliziten) Leitbild, nach einer Mindest-Utopie, die wir, wenn wir sie uns bewusst machen, kritisch hinterfragen und verändern, z.B. erweitern können. Wir können uns erst (neu) ausrichten, wenn wir wissen, wo wir sind, wo wir jetzt schon (für etwas) stehen und wo wir (eigentlich) hinwollen.

 

Da Quest im letzten Jahr 20 Jahre alt geworden ist, haben wir uns diese Fragen in einem ersten Schritt gestellt und zwar aus einer inneren Perspektive, die von unserem intuitiven Wissen, unserem Herzensanliegen und unserer Kreativität geleitet war und nicht von einem verstandesorientierten Blick. Genutzt haben wir dafür unsere selbstgestaltete neue Bilderkartei (siehe Shop). In internen – arbeitsbezogenen - Kleingruppen, die sich online trafen, wurde damit der Prozess kollegial und lebendig weitergeführt. Bei unseren Klausurtagen im Sommer wurden daraus erste Kernbotschaften herausgefiltert, die in weiteren Schritten zu einem verschriftlichten bzw. „verbildlichten“ Leitbild führen werden. Ein freudvoller und wirklich kreativer Prozess, der ins Rollen kam.

 

„Warum“ und gleichwohl auch „Wofür“ – diese zwei Ausrichtungen bilden für uns einen Anfangs- und offenen Endpunkt: Wo kommen wir her? Und wohin wollen wir gehen? Was ist unser Leitstern? Unser Sinn und Zweck? Die jetzige (Jahres)-Zeit als passenden Moment zum Innehalten, zum Wahrnehmen, ob die Richtung zur Selbstwerdung noch stimmt. Welche Veränderungen eventuell notwendig sind und was auch bewahrt werden soll. Mit einem (inneren) Leitstern kann man die Richtung nicht aus dem Blick verlieren. Es gibt dann unterschiedliche Wege, vielleicht auch mal Umwege, doch die (nie gänzlich erreichbare) Ausrichtung, gibt Orientierung, Sinn und Halt, sie gibt Mut nicht aufzugeben, Hoffnung, dass es sich lohnt und Zuversicht, dass es nach vorne geht, immerwährend, auch wenn es nicht immer hell, klar und deutlich zu erkennen ist. Mit den beiden Kernfragen „Warum“ und „Wofür“ lässt sich die (innere) Ausrichtung immer wieder neu beantworten. Es geht dabei weniger um Nietzsches fatalistisch anmutendes Diktum „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“, sondern eher darum die Mindest-Utopie als Lichtblick zu erfahren.

 

Wir wünschen Ihnen frohe Festtage, mit genügend Zeit für erhellende Begegnungen und Zeit zum Innehalten, um den eigenen Leitstern zu sehen und zu folgen. 

"Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“


Václav Havel