Motivational Interviewing und das neue Bürgergeld

Heidelberg, 15.12.2022.


„Behandle die Menschen so, als wären sie, was sie sein sollten,  
und du hilfst ihnen zu werden, was sie sei können.“ 
(Johann Wolfgang von Goethe)


Zugegeben, aus Laiensicht wirkt es so, als seien schon auf der Startbahn wichtige Teile des Bürgergelds verloren gegangen, so dass das Abheben in neue Sphären möglicherweise gar nicht gelingt. Dennoch wollen wir der ursprünglichen Grundidee des Bürgergelds in unserem Newsletter zum Jahresende ein paar Zeilen widmen.

  

Fest steht inzwischen, dass das neue Bürgergeld das ALG II ablösen wird. Die darüber hinaus geplanten Maßnahmen, ein weitgehender Verzicht auf Sanktions-möglichkeiten und eine Erhöhung des Schonvermögens, wurden auf Druck der Oppositionsparteien stark beschnitten. Fraglich ist derzeit, wie viel Reform beim Bürger ankommt. 


Die ersten Entwurfsfassungen des neuen Gesetzes lösten in Politik und Presse eine Menge Diskussionen aus. Ob das Alte oder das neu Geplante gerechter sei, ob das Bürgergeld vor allem eine Einladung in die soziale Hängematte sei, ob es überhaupt noch Jobcenter brauche, oder es alternativ billiger wäre, Auszahlungsautomaten aufzustellen, usw. Und überhaupt, wie könne es sein, dass die Kernaufgabe der Jobcenter, die Vermittlung in Arbeit, nicht mehr als solche formuliert ist? 


Bei genauerer Betrachtung wurden in dieser Diskussion unterschiedliche Menschenbilder erkennbar, die sich in ihren Extremen in zwei Polen beschreiben lassen. Die einen, die davon ausgehen, dass klare Vorgaben und im Zweifelsfall auch Druck und Sanktionen zu Ergebnissen führen. Dass arbeitslose Menschen vor allem mit einer gewissen Drohkulisse in Bewegung und damit zur und in Arbeit zu bringen sind.

  

Die gegenteilige Überzeugung sagt, dass Menschen ihr Potential nur in einer möglichst angstfreien Umgebung entfalten. Sie benötigen eine einladende Umgebung, damit sie sich selbst erkunden und zeigen können. Auf diese Weise entsteht mehr oder weniger automatisch der Wunsch nach Weiterentwicklung, z.B. hin zu einer tagesstrukturierenden und/oder sinnstiftenden Tätigkeit.  
Diese Auffassung geht mit der Annahme einher, dass Druck eher Gegendruck bewirkt. Dass Menschen vor der Kulisse von möglichen Leistungskürzungen zwar vorübergehend angepasstes Verhalten zeigen, z.B. in Form von Mitwirkung, dies jedoch keine dauerhafte Verhaltensänderung bewirkt. Folglich würden die im Zentrum der Diskussion stehenden Langzeitarbeitslosen mittel- bis langfristig ohne Beschäftigung bleiben. Parallel dazu werden sie von Mitarbeitenden des Jobcenters in Maßnahmen gezwungen, eine kostspielige, zeit- und nervenaufreibende Vorgehensweise, die, seitens der Adressaten, durch einfachste Strategien sabotiert werden kann, mit etwas Geschick sogar ganz ohne Sanktion oder sonstige Konsequenz.  


Die Fraktion, die ein druckausübendes Szenario befürwortet, unterstellt den Reformen einen naiven Blick in die Welt und das Befördern von Faulheit und Schmarotzertum. Sie zeigt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Leistungsempfänger*innen im Sozialstaat. Sie mahnt, den Grundsatz des Förderns und Forderns nicht aus den Augen zu verlieren. 


 

Genau dieses Misstrauen wird ihr von den „Reformkräften“ vorgeworfen. Eine solche

Haltung, verbunden mit einer Drohkulisse, führt aus dieser Sicht gerade nicht zu mehr Mitwirkung, vielmehr zu einem kontinuierlichen Verstecken und Verbergen. Fördern und Fordern wollen die Reformierer*innen anders verstanden wissen. Auch sie sagen: wir fördern dich, wenn du mitwirkst. Allerdings meinen sie damit  das Fördern von beruflichen Perspektiven. Die Auszahlung des Existenzminimums würden sie nicht als Fördern in diesem Sinne verstehen.  


Abseits der öffentlichen Bühne haben sich die ersten Jobcenter schon im Frühherbst auf den Weg gemacht, ihre Teams für die neue Zeit vorzubereiten und zu qualifizieren. Das wurde bei uns (Quest) ganz konkret an entsprechenden Anfragen sichtbar. Klausurtagungen, um Haltungsfragen zu erkunden und zu bewegen, wurden ebenso geplant wie MI-Trainings. Findige Köpfe hatten schnell erkannt, dass das Menschenbild und die Gesprächsstrategien des Motivational Interviewing (MI) passgenau sind für die geplanten Reformen. Unter Arbeitstiteln wie „Beratung ohne Zwang/Sanktion“ sollten Sichtweisen überdacht und neue Beratungskonzepte entwickelt werden.  


Inzwischen haben die ursprünglichen Reformideen, wie oben beschrieben, einen Dämpfer erfahren. Es ändert sich vielleicht ein bisschen etwas, im Großen und Ganzen kann wohl nach bisherigem Muster weiter verfahren werden. Die Jobcenter haben darauf teils schnell reagiert. Klausuren und Trainings wurden, sofern noch nicht durchgeführt, wieder in Frage gestellt bzw. vorerst auf Eis gelegt.  


Eine verpasste Chance? Diese Frage wird schwer zu beantworten sein. Es müsste erst der Beweis erbracht werden, dass die These, die auch das MI prägt, dass „Menschen grundsätzlich motiviert sind und nicht fehlende Motivation das Problem ist, sondern vielmehr Ambivalenzen, die einer Veränderung im Wege stehen“ auch im Kontext SGB II, Bürgergeld und Arbeitslosigkeit gilt. Der Mut, diesen Beweis zu führen, ist der derzeitigen Regierung hoch anzurechnen. Zur Realität gehört zugleich auch, dass dieser Gedanke gesamtgesellschaftlich noch nicht reif zu sein scheint. 


 

Dennoch hat die Love-Story „MI im Jobcenter“ längst begonnen. Eindrücke aus unserer langjährigen Zusammenarbeit mit verschiedenen Jobcentern haben uns immer wieder optimistisch gestimmt. Ungeachtet von Sanktionsmöglichkeiten verzichten viele JC seit langer Zeit auf diese Art der Motivation. Sanktionen sind dort der absolute Ausnahmefall. Dort stehen die Menschen und ihre Ressourcen im Mittelpunkt. Die Mitarbeitenden sehen sich als Beratungsfachkräfte und empfinden das Sanktionsgespenst im Hintergrund eher als störend. Sie versetzen sich in die Lage ihrer Kund*innen und sagen: „Unter diesen Bedingungen wäre ich auch vorsichtig, würde genau überlegen, was ich sage und worauf ich mich einlasse.“ Gleichzeitig wissen sie, dass sie es manchmal auch mit Personen zu tun haben, die es darauf anlegen, das System auszunutzen. Allerdings haben sie auch die Erfahrung gemacht, dass deren Strategien meist „wasserdicht“ sind“, dass „denen auch mit Sanktionen nicht beizukommen ist.“ Ein Kampf mit dieser kleinen Gruppe bedeutet Energieverschwendung und die Gefahr von eigenem Burnout. Die Ausrichtung und Konzentration auf die Majorität der Konstruktiven ist sinnvoller. 


Wir sind von MI und dem dazugehörigen Menschenbild überzeugt und stehen für ein personenzentriertes und zielorientiertes Vorgehen. In großen Organisationen (z.B. JC, Arbeitsagenturen …) zeigt sich häufig ein Bedarf nach klaren Strukturen und geregelten Prozessen, zudem sind Gesetze einzuhalten. Vor diesem Hintergrund geht Personenorientierung leicht zugunsten einer einrichtungs- oder organisationsbezogenen Sicht verloren. Die ursprüngliche Reformfassung hätte eine „offizielle“ Öffnung hin zu mehr Personenzentrierung ermöglicht. So bleibt es im Ermessen von Beschäftigten bzw. von Einrichtungskulturen, ob die Person im Mittelpunkt steht, oder der formalistische Einsatz von „Instrumenten“.  


Den Mitarbeitenden und Kund*innen der Jobcenter ist zu wünschen, dass die Entwicklung und der Prozess zu mehr kluger, psychologisch begründeter Motivation weiter geht.